Hildegard über die Augen des Menschen
Von den Augen
Die Pupille des Auges hat nämlich Ähnlichkeit mit der Sonne, die schwarze oder graue Färbung um
die Pupille herum vergleicht sich dem Mond und das außen liegende Weiß den Wolken. Das Auge
besteht aus Feuer und Wasser. Durch das Feuer wird es zusammengehalten und gekräftigt, damit es
bestehen kann, das Wasser dagegen wird zum Sehen hingeleitet. Nimmt an der Oberfläche des
Auges des Menschen das Blut überhand, so erstickt es die Sehkraft des Auges, weil es das Wasser
austrocknet, das dem Auge das Sehen verleiht. Andererseits hat, wenn das Blut dort übermäßig
verringert wurde, das Wasser, das im Auge zum Sehen dienen sollte, dann nicht genügend Kraft, weil
es fehlt, da es im Blut dessen Kräfte wie eine Säule tragen sollte. Deshalb werden bei alten Leuten die
Augen schwachsichtig, weil es bei ihnen abnimmt und das Wasser mit dem Blut bei ihnen weniger
wird. Dagegen sehen junge Leute schärfer wie alte, weil in ihren Gefäßen noch das richtige Verhältnis
zwischen Blut und Wasser vorhanden ist. Bei ihnen haben Feuer und Wasser noch nicht die Wärme
und Kälte über das Maß hinaus ausgetrocknet und vermindert.
Von den grauen Augen
Ein Mensch, der graue, dem Wasser ähnliche Augen besitzt, bezieht diese hauptsächlich aus der Luft.
Daher sind sie schwächer wie andere Augen, weil sich die Luft infolge der verschiedenen, durch
Wärme, Kälte und Feuchtigkeit hervorgerufenen Bewegung oftmals ändert und solche Augen von
schlechter, weicher und feuchter Luft wie auch vom Nebel leicht geschädigt werden. Denn ebenso wie
diese die Reinheit der Luft beeinträchtigen, schädigen sie auch die von der Luft her erworbenen
Augen.
Von den feurigen Augen
Wer feurige Augen hat, der dunklen Wolke neben der Sonne vergleichbar, hat sie vom warmen
Südwind naturgemäß erhalten. Sie sind gesund, weil sie von der Wärme des Feuers herstammen.
Staub aber und jeglicher schlechter Geruch schadet ihnen, weil ihre Helligkeit nicht auf den Staub und
ihre Reinheit nicht auf den unbekannten Geruch achtet.
Von den Augen mit wechselnder Farbe
Wer Augen hat, der Wolke ähnlich, in der der Regenbogen scheint, hat sie von der Luft der
verschiedenen Luftströmungen, die weder gleichmäßig trocken noch feucht sind, bekommen. Sie sind
schwach, weil sie aus der unbeständigen Luft entstehen, und haben, weil sie nicht vom Feuer
herstammen, bei warmer Luft ein verdunkeltes Sehen, bei reiner Regenluft dagegen sehen sie scharf,
weil sie mehr feuchter wie feuriger Art sind. Als besonders helles Licht, sei es von der Sonne, dem
Mond, von Lichtern und vom Glanz der Edelsteine und Metalle oder sonst woher, ist für solche Augen
schädlich, weil sie von der Luft mit ihren wechselnden Strömungen herkommen.
Von den trüben Augen
Wer Augen hat, die der trüben Wolke gleichen, die weder ganz feuerfarbig noch auch ganz trübe,
sondern etwas grünlichblau ist, der hat sie von der missfarbigen Feuchtigkeit der Erde erhalten,
welche die mannigfachen Schädlichkeiten, von Kräutern und Erdwürmern herrührend, hervorbringt.
Diese Augen haben einen sanften Ausdruck und lassen rotes Fleisch hervortreten, weil sie aus dem
Schleim hervorgegangen sind. Sie werden aber weder von feuchter Luft noch von Staub, üblem
Gestank und dem hellen Leuchten irgendeines Gegenstandes, unter denen, wie schon gesagt, die
Sehschärfe anderer Augen leidet, angegriffen, obwohl sie manchmal an gewissen anderen
Krankheiten leiden. Denn ebenso, wie nichts im Wege steht, dass aus der missfarbigen
Erdfeuchtigkeit Unkräuter und Würmer hervorgehen, ebenso wenig wird die Sehschärfe solcher
Augen durch die angeführten schädlichen Einflüsse beeinträchtigt.
Von den schwarzen Augen
Wer schwarze oder trübdunkle Augen hat, so wie manchmal eine Wolke ist, hat sich hauptsächlich
von der Erde erhalten. Sie sind kräftiger und sehen schärfer wie andere Augen und behalten ihre
Schärfe lange Zeit, weil sie von der Erdkraft herstammen. Sie werden aber leicht von der Erdfeuchte
und der Feuchtigkeit der Gewässer und Sümpfe angegriffen, gerade so, wie auch die Erde von
schädlicher Feuchtigkeit und der großen Feuchtigkeit der Gewässer und Sümpfe vergiftet wird.